Gaby: Die Bahnhöfe platzen aus allen Nähten – erst recht an Tagen mit vielen Schulreisen. Dies habe ich kürzlich erfahren.
Mit zwei vollen Taschen beladen steige ich aus dem Zug und bewege mich
vom Perron Richtung Treppenabgang. Bereits von weitem höre ich lautes,
fröhliches Geschrei aus der Bahnhofsunterführung. Dessen Quelle lässt
sich nach ein paar Sekunden als Schulklasse identifizieren, die sich –
völlig aus dem Häuschen und übermütig – den Treppenaufgang zum Perron in
voller Breite erobert.
Weder SchülerInnen noch Lehrerin scheinen zu bemerken, dass sie sich
so unpassend platziert haben, dass niemand mehr die Treppe benutzen
kann. Der Weg ist versperrt. Also mache ich mich bemerkbar:
«Könnte ich bitte die Treppe runter?» Meine höfliche Bitte findet bei den Kindern kein Gehör. Also hebe ich meine Stimme an und rufe lauter: «Hallo, ich möchte da durch – macht bitte Platz, ihr versperrt die Treppe!»
Ein paar Kinder staunen mich an, rücken nach einer längeren Weile
schliesslich doch ein paar Zentimeter zur Seite, so dass ich mich die
Treppe runter schlängeln kann. Dabei höre ich noch, wie die Lehrerin mir
etwas nachruft, das sich anhört wie
«Die Kinder sind aufgeregt» und irgendetwas von «Schulreise…».
Mir gehört die Welt
Dieses Ereignis beschäftigt mich länger als erwartet. Die Frage, die
sich mir aufdrängt: Wann ist der Zeitpunkt da, zu dem Kinder dazu
angeleitet werden sollen, dass sich die Welt nicht um sie alleine dreht?
Im oben beschriebenen Moment war nun ich jene Person, quasi der
Störfaktor, die sich ihren Platz einfordern musste. Was ich in dieser
Situation vermisst habe: Ein souveränes
«Bitte gebt die Treppe frei» von Seiten der Aufsichtsperson. Nicht mehr und nicht weniger.
Ein Generationenkonflikt?
Der Text von Gaby Jordi bewog ihre junge
Kollegin Annina Reusser (21) aus der «und»-Redaktion, darauf zu
reagieren. So entstand redaktionsintern ein kontroverser Dialog über
diese Situation.
Annina Reusser: Entschuldige, aber du hörst dich ja an wie
eine verbitterte, lärmempfindliche Alte ohne Verständnis für Kinder und
deren Verhalten.
Gaby Jordi: Es war nicht der Lärm, der meine Toleranz
strapazierte. Meine Absicht und die Bitte, die Treppe zu betreten, wurde
von den SchülerInnen gar nicht wahrgenommen. Deshalb habe ich mich
lautstark bemerkbar gemacht.
Annina Reusser: Klar hatte die Lehrerin offenbar keine
Kontrolle und ihr Kommentar ist fragwürdig, andererseits ist eine
Schulklasse, die die ganze Treppenbreite in Beschlag nehmend auf den
Perron steigt, ziemlich schnell an einem vorbei. Eine, zwei, drei, vier
Sekunden warten, schon sind die paar Treppenstufen wieder frei. Meiner
Meinung nach darf man da auch mal ausatmen und den Sturm vorbeiziehen
lassen – er betrifft einen ja dann nicht mehr.
Gaby Jordi: Du hast recht, Annina: Ich hätte drei Mal
durchatmen und die Schülergruppe an mir vorbeiziehen lassen können. Das
passte in jener Situation nicht zu meinem Verhalten. Mein Bauch gab mir
zu verstehen: «Mach dich bemerkbar». Indem ich mir Gehör verschafft
habe, gab ich ihnen zu verstehen, dass ihr Übermut der eine und meine
Wenigkeit der andere Teil ihres Schulreise-Erlebens sind.
Annina Reusser: Eine ausgelassene Schulklasse fällt
natürlich auf. Im Rahmen der Pfadi war ich schon oft mit einer Gruppe
Kinder unterwegs. Ich verstehe, wenn dies stört. Aber genauso störend
sind auch Festival-Gänger, indische Touristenfamilien mit Schränken als
Koffer und Seniorenreisegruppen. Ich habe schon SeniorInnen erlebt, die
im Schneckentempo die Treppe hochsteigen und den Eingang in den Zug
versperren, oder schon fünf Minuten vor Ankunft aufstehen, ihre Jacken,
Wanderstöcke und Rucksäcke zusammensuchen, und beim abrupten Bremsen des
Zuges fast das Gleichgewicht verlieren. Ich plädiere hier dafür,
Toleranz zu üben.
Gaby Jordi: Bei der Toleranz stimme ich dir zu. Allerdings hat
diese ihre Grenzen. Als ehemalige, jahrelange Berufspendlerin konnte ich
mir eine dicke «Toleranz-Haut» zulegen. Die wird ab und zu
überstrapaziert. Dann reagiere ich. Wäre dem nicht so, wäre ich
gleichgültig gegenüber mir selbst.